Was ist es, mein Freund, das du nicht verstehst?

Ich lese seit ein paar Tagen ein Buch eines isländischen Autors, Bergsveinn Birgisson, der bei uns relativ unbekannt ist, in seiner Heimat aber ein Star sein soll. In Norwegen wird er sehr gefördert von Karl Ove Knausgård, dem berühmt norwegischen Schriftsteller, der Bergsveinn Birgisson als einen außergewöhnlichen Erzähler bezeichnet. In dem mir vorliegenden Taschenbuch schildert Bergsveinn Birgisson in Erzählungen, gesammelt in einem fiktiven Tagebuch eines jungen Fischers, das Leben einer kleinen Gemeinschaft von Küstenfischern an und in einem der isländischen Westfjorde. Eine Erzählung hat die Überschrift: Davon, als der Philosophiemann ins Dorf kam. Sie handelt davon, wie ein Man in die kleine Siedlung am Ende der Straße kam und versuchte, mit den Fischern ins Gespräch zu kommen über dies und das, das Fangglück, Küstenseeschwalben und deren Brutplätze und so weiter.

Dann wurde über die Ernsthaftigkeit des Lebens gesprochen und Ebbi fragte, ob der Ankömmling sich in Reykjavik mit Fischfang beschäftigt habe. Der Philosophiemann sagte, er sei noch nie auf See gewesen, er studiere Philosophie. …

Gusi stopfte Borkum Riff in seine Pfeife und zündete sie an. Ein Hoch stand im Westen und es war warm und der Duft von Gras und Seetang hing in der Luft. In der kleinen Bucht quakten Eidererpel ihren Gefährtinnen ihr „Uh-uh“ zu und der Bach draußen bei den Häusern schoss an den Strand. Ich erinnere mich genau, wie der Bach an den Strand schoss. Gusi fragte den Philosophiemann in aller Ruhe, warum man eigentlich Philosophie studieren solle. Der Philosophiemann starrte eine Weile konzentriert vor sich hin, so als feile er an einer guten Antwort, aber sagte dann: Ich weiß nicht, wie es anderen geht, aber ich studiere Philosophie, damit ich die Welt besser verstehe.

Es war dann so, dass manche zu den Bergen aufblickten und sahen, dass bei dem warmen Wetter viel Eis in den Rinnen geschmolzen war, und andere auf den Fjord hinausspähten und sahen, wie die Wellen an der Schäre anbrandeten und daher kein Wetter zum Fischen war, und dann blickten Ebbi und Bensi einander an, dann den Philosophiemann, und einer von beiden sagte: Was ist es, mein Freund, das du nicht verstehst?[1]

Im berühmten Gedicht des dritten chinesischen Zen-Patriarchen Seng-ts`an (jap. Sôzan), dem Shinjinmei (Meißelschrift vom Vertrauen in den Geist) heißt es in der 20. Strophe:

Du brauchst nicht
nach der Wahrheit zu suchen;
Lass nur unbedingt ab
von Überlegungen.[2]

Soko Morinaga Roshi kommentiert dies so:

Es ist nicht nötig nach der Wahrheit zu suchen – aber es nützt euch auch nichts, wenn ihr einfach „nicht sucht“ und im Zustand eurer Täuschungen und Vorstellungen verbleibt. Suchen oder Nicht-Suchen ist beides, solange es innerhalb des Bereichs eurer gedanklichen Aktivitäten stattfindet, ohne Nutzen. Verfangt euch deshalb nicht in den Worten „Leere“ und „Wandel“, hört auf, „über“ Dinge nachzudenken, und empfangt alles, so wie es ist – direkt und unmittelbar.[3]

Die isländischen Küstenfischer und der Zen-Patriarchen sprechen aus derselben Wirklichkeitserfahrung von derselben Tatsächlichkeit. Sie verstehen sich ohne weiteres, wenn auch ihre Sprache, das heißt ihre Worte, unterschiedlich sind. Und so würden Ebbi und Bensi auch die folgende Strophe des Shinjinmei instinktiv und intuitiv als wahr bestätigen, die da lautet:

Wenn sich kein Geist erhebt,
sind die Zehntausend Erscheinungen
ohne Fehler.[4]

Und sie würden auch dem folgenden Kommentar von Soko Morinaga Roshi hierzu ohne Probleme zustimmen:

Der Begriff „Geist“ hat verschiedene Bedeutungen. Er wird verwendet im Sinne von fundamentaler Wahrheit, beschreibt aber auch das in jedem wirkende Leben an sich sowie die geistigen Aktivitäten, die eine natürliche Erscheinung des Lebens sind. Darüber hinaus impliziert er auch ein Wirken, das sich als Begriffliche-Unterscheidungen-Treffen ausdrückt. Von diesem Geist spricht Sôzan in diesem Vers – dem Geist, der begriffliche Unterscheidungen trifft, der die Grenzen zwischen den verschiedenen Dingen erzeugt, sie vergleicht, Vor- und Nachteile sieht und dann auswählt. Durch solch ein Wirken des Geistes werden die einzelnen Dinge mit einem Etikett versehen, auf dem entweder gut oder schlecht steht. Im Zen gibt es ein bekanntes Sprichwort: „Etwas Großes ist ein großer Buddha, etwas Kleines ist ein kleiner Buddha.“ Obwohl ein klarer Unterschied zwischen Groß und Klein gemacht wird, wird beides in seiner Soheit als vollkommene Existenz gesehen. Das nennt Sôzan: „Die Zehntausend Erscheinungen sind ohne Fehler.“ Die einzelnen Erscheinungen besitzen zwar ihre jeweiligen Eigenarten, aber gleichzeitig existieren sie nur in Harmonie mit allem anderen. Während es Unterschiede gibt, gibt es gleichzeitig keine Unterschiede.[5]

Und da gibt es ja noch den Ausgangsvers des Shinjinmei, den ich hier zum Abschluss zitieren und Soko Morinaga Roshi auch dazu kurz zu Gehör bringen möchte:

Der Höchste Weg
ist nicht schwierig
nur ohne Wahl.[6]

Der Kommentar dazu:

Ohne Wahl, das heißt ohne ein Ich, das Unterscheidungen und Trennungen zwischen sich selbst und anderen vornimmt, das eine bevorzugt und das andere ignoriert. Es bedeutet Nicht-Geist, klare, vollkommene Aufmerksamkeit, mit der alles ohne Vorlieben und Abneigungen empfangen wird – ohne sich willentlich anzustrengen. Nur dann werden das unbefriedigte Verlangen, der dauernde Hunger vergehen.

Ich sage nicht, dass ihr aufhören solltet zu denken, sondern dass ihr aufhören solltet, in einem Zustand der Verwirrung, in einem Zustand, in dem das eigene kleine Ich im Mittelpunkt steht, über Dinge nachzudenken.[7]

Der alte, aufgrund eines Unfalls an sein Bett gefesselte Jonmundur, der von dort aus Tag für Tag 20 Jahre lang auf den Fjord und die Landschaft, in die der Fjordeingebettet liegt, schaut und schaut, sagt dem Ich-Erzähler Halldor – und uns – erstaunliche Sätze über das Leben, die Freiheit in diesem, auch und gerade im Nicht-Tun-Können und auch diese Sätze „zum Fenster hinaus“:

Die Landschaft hat immer recht. Die Landschaft ist nur das, was sie ist und deshalb sollten die Menschen den Blick in sie hineinrichten. … Alles ist nur so, wie es ist.[8]

Danke!

KF

(Impuls im Sesshin in Gerleve am 13. 8. 2025 und nach der Abendmeditation am 18. 8. 2025 in Bochum)

 

 

[1] Bergsveinn Birgisson, Die Landschaft hat immer recht, Taschenbuchausgabe 2023, S. 23 und S. 25.
[2] Übersetzung von Ursula Jarand, in: Die Meißelschrift vom Vertrauen in den Geist, 2019, S. 74.
[3] Soko Morinaga Roshi, a.a.O., S. 75.
[4] A.a.O., S. 85.
[5] Soko Morinaga Roshi, a.a.O., S. 85 f.
[6] A.a.O., S. 119.
[7] Soko Morinaga Roshi, a.a.O., S. 119 f.
[8] Bergsveinn Birgisson, Die Landschaft hat immer recht, Taschenbuchausgabe 2023, S. 228 f.