Am Ostermontag in der Frühe erhielt ich per E-Mail einen Ostergruß von P. Sebastian Debour aus Gerleve, dem zwei Haikus beigefügt waren, die er zu Ostern verfasst hatte. Das erste mit dem Titel Osterwunsch möchte ich Euch heute weitergeben:
osterwunsch
wäre doch etwas
stärker als hölle und tod
etwas wie liebe
Und ich saß in meinem Lesesessel am Wohnzimmerfenster und schaute nach draußen. Die Sonne schien, immer wieder unterbrochen von weißen Wolken vor dem Blau des Himmels an diesem Ostermontag. Ich schaute in die mächtige Krone des Süßkirschbaumes, den ich vor mehr als 40 Jahren gepflanzt hatte. Und ich sah dabei zu, wie jeder Windstoß weiße Blütenblätter durch die Luft segeln ließ und der Garten weiß gesprenkelt wurde.
In dieser Stimmung kam mir dieses kleine Haiku, welches ich als Antwort zurück nach Gerleve schickte:
Blüten schneit es vom Kirschbaum
an diesem Ostern.
Wieder beginnt Leben neu.
Ein Haiku (7-5-7), aus einem Fensteraugenblick im österlichen Frühjahr entstanden.
Und wie ich vor einigen Tagen an meinem Schreibtisch saß, in den Regen schaute, der die letzten Blütenblätter vom Kirschbaum auf den Boden klatschend hat fallenlassen, zeigte sich mir an der Wand links von mir das dort angepinnte, in schöner Schrift, wie sie Marlis Fahrendorf eigen war, niedergelegte Haiku von ihr zu diesem Kirschbaum, welches sie in einem Spätherbst (ich weiß leider nicht mehr in welchem) verfasst hatte:
Spät im November
Wechselt er noch sein Gewand
Der gelbe Kirschbaum
Der Kirschbaum – im Frühling, wie im Herbst – jeweils im Übergang. Er beschirmt mein Leben und seit schon einer ganzen Reihe von Jahren auch das von Ulrike. Und so wie Marlis wie in einer Vorahnung des eigenen Lebensweges, der sie am 27. November 2008 ins Hospiz St. Hildegard für ihre letzten Tage auf Erden führte, im Eigentlichen sich selbst beschrieb in diesem Haiku, so ist mit dem Kirschbaum in seiner Blüte im Frühjahr nicht anderes beschrieben als auch unsere menschliche Existenz hier in Zeit und Raum.
Bäume spielen übrigens (auch) in den Zen-Koans eine Rolle. So fragt im Koan Hekiganroku Nr. 27 (Ummons „Vollkommene Manifestation“) ein Mönch den berühmten Meister Ummon:
„Was ist, wenn der Baum verdorrt und die Blätter fallen?“
„Der Baum“, sagt er. Welcher Baum fragen wir. Nun, nachdem was ich vorhin, sozusagen im Vorspann erzählte, dürfte es leicht für euch sein, eine Verbindung zu schlagen, eine Beziehung aufzunehmen und zu erkennen, dass der Mönch hier von sich spricht. Was, so ist dann die unweigerlich nächste Frage, will er von seinem Zen-Meister wissen, und vor allem, wovon spricht er da, wenn er von einem Verdorren spricht und dem Fallen der Blätter (bei sich)?
Ich denke, wir liegen nicht falsch, wenn wir hier Hilflosigkeit spüren. Wir haben, denke ich weiter, dafür ein gutes Gespür. Wieso? Weil wir bei einer solchen grundsätzlichen Frage, die ja auch unsere Existenz (oder Nichtexistenz) betrifft, uns in unserer größten Grundangst berührt werden, nämlich der vor einem Sterben und dem Tod. Eine Hilflosigkeit, die uns vielleicht gerade auf den Übungsweg gebracht hat. Keine Antwort scheint möglich. Das Denken schafft es nicht. Wissen darüber gibt es nicht.
Und was macht der große Zen-Meister Ummon (864 – 949 n. Chr.)? Er sagt: „Ti lou jin feng.“
– Ti (Körper, Gestalt, Wesen)
– Lou (entblößen, zeigen) – Jin (golden)
– Feng (Wind)
Als zusammenhängender Satz übersetzt heißt das: „Vollkommene Manifestation des goldenen Windes“, mit anderen Worten: „des Herbstwindes“. Also lautet die Antwort: „Vollkommene Manifestation des Herbstwindes.“ Das ist, „wenn der Baum verdorrt und die Blätter fallen?“ Ein- und dieselbe Wirklichkeit, das sagt Ummon dem Mönch und uns.
Und noch etwas können wir der Botschaft im Sinne einer Beschreibung von Wirklichkeit wohl entnehmen: Herbstwind ist eine der vielen Erscheinungen im Jahreszeitenzyklus, mehr noch: im Lebenszyklus. Der goldene Wind als Herbstwind ist auch der Frühlingswind. Ein Durchgangsstadium, wenngleich im Moment des Jetzt, allein und vollständig nur das in genau dieser Erscheinung.
Aber der Mönch spricht nicht nur von dem Fallen der Blätter. Er spricht vom Verdorren, vom Verwelken. Das schließt Ummon aber nicht aus. Nein, er umfasst dies auch. Was besagt das?
Wir können die Frage des Mönches aus dem Blickwinkel des gewöhnlichen Lebens, des Lebens in Zeit und Raum, betrachten, z. B. der Situation ernsthafter Krankheit oder der Situation des Sterbens. Und zu der sich dazu stellenden Frage: „Wie ist es?“ kann einem die Antwort des Zen-Meisters Baso einfallen, der darauf geantwortet hat: „Buddha mit dem Sonnengesicht, Buddha mit dem Mondgesicht.“ (Hekiganroku Nr. 3) In Worten von P. Johannes Kopp S.A.C. (Hôun-ken Roshi) wenige Monate vor seinem Tod: „… in der vollkommenen Annahme seiner Situation – man kann auch sagen: In der vollkommenen Annahme seines Menschseins, Krankheit und Tod inbegriffen“, kann der Mensch sein Menschsein vollkommen realisieren.
Wer so fragt wie der Mönch in unserem Koan, der verdrängt nichts, sondern stellt sich voll der existentiellsten Frage, die es für uns Sterbliche gibt!
Wenn wir so fragen in unserem Leben, mit unserem Leben, durch unser Leben, dann sind wir – in solchen Momenten – auf dem Weg, unsere Verhaftungen an Ideen, Vorstellungen, und auch Ängste sein zu lassen und uns der umfassenden Lebens-Wirklichkeit als einem beständigen Wandel und Neubeginn zu stellen. Dann sind wir ganz dicht dran an dem Erspüren und der Erfahrung, dass tatsächlich nur ein- und dieselbe Wirklichkeit existiert, die wir sonst pausenlos zu zerstückeln versuchen, durch unsere Zugriffe, durch unsere Analysen, Bewertungen, Vorurteile.
In der Bildsprache unseres Koans ist es das Loslassen der Blätter, welches unsere Übungspraxis ausmacht.[1] Es ist das Fallenlassen unserer illusorischen Gedanken und Sichtweisen, auch der konzeptionellen Unterscheidungen zwischen Leben und Tod, Himmel und Hölle,[2] zwischen Himmel und Erde, heilig und gewöhnlich. Bis hin zum letzten Punkt, bis zum toten Punkt, in dem wahres Leben beginnt. Aus dem Verdorrten sprießt das Neue!
So wird auch dieses Koan verstanden: Was ist, wenn nach kontinuierlicher Übungspraxis alle illusorischen Gedanken und Konzepte verschwunden sind? Was ist dann?
Yamada Kôun Roshi, der Meister meines Meisters, P. Johannes Kopp S.A.C. (Hôun-Ken Roshi), schreibt dazu:
Je mehr sich unsere Übungspraxis vervollkommnet, umso geringer sind die egoistischen Verhaftungen und Anhänglichkeiten, umso authentischer können die Aktivitäten für andere sein. Solange ihr noch an irgendetwas haftet, kann euer Handeln nicht echt und authentisch sein. Erst wenn alle Verhaftungen ausgerottet sind, beginnt das wahre Wirken eines authentischen Menschen.[3]
„Wenn wir unseren Geist nicht kontrollieren, ist es unmöglich, dauerhaftes Glück zu finden“, sagt der Dalai-Lama.
Letztlich bestimmt das Maß der Willenskraft – wohlgemerkt: nicht der Wollenskraft – den ganzen Prozess. Ohne wirkliche Entschlossenheit kann die Übungspraxis nicht aufrechterhalten werden. Das betrifft auch und gerade das Alltagsleben: auch dort den Geist immer mehr offen zu halten, frei von Konzepten im Kopf. Es gilt also, immer mehr und immer deutlicher und sicherer ein Gespür für die Unzulänglichkeit eines bloß intellektuellen Verständnisses zu entwickeln![4]
Auf einem Stück Papier werden wir den Weg nicht finden.[5]
Auf dem Kissen, dem Bänkchen, dem Stuhl – in der Stille –wird er sich auch oft nur unscharf, verdunkelt gar, zeigen oder gar uns in Sackgassen und über Umwege führen, die frustrieren und schmerzen können, zumal wenn wir uns etwas vorgegaukelt haben.
Aber je mehr wir „sterben“ durch das Aufgeben egobehafteter Vorstellungen, Anhaftungen und Anhänglichkeiten und nicht der Versuchung erliegen, sie wieder neu aufzubauen oder durch andere zu ersetzen, umso mehr werden wir befähigt sein, die Frage vollständig zuzulassen: „Was ist, wenn die Blätter fallen?“ und zu antworten: „Goldener Herbstwind!“ – Pures Sein!
In dem preisgekrönten Roman von Richard Ford „Der Sportreporter“ kommt auf S. 400 von 402 Seiten der Ich-Erzähler zu folgender Erkenntnis:
„Die einzige Wahrheit, die nie eine Lüge zulässt, ist das Leben selbst – das, was geschieht.“
Wir, als Übende auf dem Weg der Zen-Kontemplation fügen hinzu:
das, was geschieht JETZT.
Danke!
KF
(Teisho am Zazenkai in Hattingen-Welper am 3. Mai 2025)
[1] jap. shuhô–hen; Yamada Kôun, Hekiganroku, Band I, S. 291.
[2] A.a.O.
[3] A.a.O., S. 294
[4] vgl. Yamada Kôun, a.a.O., S. 299
[5] A.a.O., S. 302