Ich würde gerne heute noch einmal das Thema „Leid“ aufgreifen, welches Klaus an unserem letzten Zazenkai vor einem Monat hier in Welper zur Sprache gebracht hat.
Das Leid und das Leiden gehören zu unserem menschlichen Leben ganz offenbar dazu. Aber ohne die Existenz von Leid kann es auch keine Liebe oder Barmherzigkeit geben! Anhand von Textstellen aus dem Buch „Das Wort vom Geheimnis der Welt“ von Perry Schmidt-Leukel hörten wir diese, wie ich finde, sehr starke und überzeugende Aussage.
Nur, wer selbst Leid erfahren hat, auf die eine oder andere Weise, kann verstehen und nachvollziehen, was in einem Menschen vorgeht, der ebensolches erlebt hat. Mitgefühl und Barmherzigkeit vergrößern sich deutlich durch das eigene Erleben, das selbst Durchlebte, die eigene schmerzhafte Erfahrung. Das kennen wohl die meisten von uns.
Menschen mit ähnlichen Erfahrungen sind für uns dann natürlich besonders hilfreich, z.B. im Gespräch und im Miteinander, weil wir dadurch nicht so viel erklären müssen und sofort verstanden werden. Den Schmerz durchleben und aushalten allerdings, mit allem, was dazugehört, muss jedoch jeder ganz für sich allein. Da führt kein Weg dran vorbei. Leider. Leider?
Dieses „Selber-durchleiden-müssen“ scheint tatsächlich die einzige Möglichkeit zu sein, um innerlich weiterzukommen und zu reifen. Nur in diesem verzweifelten Ringen mit uns selbst und den Umständen kommen wir offenbar an diesen Tiefpunkt, an dem wir gezwungen sind, unsere vollkommene Hilflosigkeit und Ohnmacht anzuerkennen. So sind wir schließlich gezwungen, uns dem Leben ohne Wenn und Aber auszuliefern und das Leben so zu akzeptieren, wie es eben gerade jetzt ist. Nur diese Akzeptanz hilft, dieses Annehmen, um dann zu versuchen, bestmöglich damit umzugehen. Widerstand hilft nicht. Und wenn wir dann so ganz und gar sozusagen „durchgeknetet“ worden sind, wenn wir in gewissem Sinne also aufgeben, kann sich etwas entwickeln und verwandeln.
Wenn es uns also gegeben ist, diese schwierigen Zeiten als Auslöser zu erkennen für die wirklich tiefe Suche nach Antworten, z.B. nach dem „warum“ oder dem etwaigen „Sinn“ des Ganzen, dann wären wir einen gewaltigen Schritt weiter gekommen, denn dann hätten wir begonnen, wie Pater Kopp es so oft ausgedrückte, die Hindernisse in Fördernisse zu verwandeln.
Schwerstarbeit, ja, aber ich wage zu sagen, in einem solchem Fall auch unser Glück, denn dadurch kommen wir auf den Weg. – Sehr viel leichter wird es dann zwar nicht, zumindest nicht sofort, aber, wenn dies wirklich unsere tiefste Motivation ist, dann bleiben wir dran, und irgendwann können wir gar nicht mehr anders.
Ähnlich und oft genauso quälend geht es ja auch immer mal wieder auf unserem spirituellen Weg zu, bei der Meditation, dem Weg in unsere tiefste Tiefe, beim Sitzen im und mit dem Atem, einem Koan, oder im Shikantaza, dem „Einfach-nur-Sitzen“. Sich ganz und gar hineinbegeben mit ganzem Leib, ganzem Herzen und ganzer Seele. Auch dort heißt es ja immer wieder: nicht klammern an unseren Wünschen, Vorstellungen, Erwartungen oder Ideen, sondern sich rücksichtslos hineinbegeben, öffnen für das große Unbekannte, Ungewisse. All diese Widerstände dagegen aufzugeben, ist das Allerschwierigste. Aber nur dann besteht die Möglichkeit uns ganz erfüllen zu lassen von dem großen Unbekannten und gleichzeitig sehnlichst Erwünschtem.
Diesen Widerstand liefert uns unser Ego, und es bedarf Tag für Tag eines neuen Anlaufs, unser Ego und damit uns selbst müde zu kämpfen. Wir regenerieren unsere Kräfte jede Nacht im Schlaf, und gleichzeitig eben auch die unseres Egos. Jeder, der schon einmal in einem mehrtägigen Sesshin war, wird das kennen. Jeden Tag scheinbar ganz von vorne beginnen…
Aber nun noch einmal zurück zu unserem konkreten Leben und der Leiderfahrung.
Aus dem Christentum fällt mir als erstes vor allem eine Schlüsselszene ein, nämlich die der sogenannten Pietá. In der Kunstgeschichte bis heute auf vielerlei Weise dargestellt. Ihr werdet alle ein Bild dazu vor Augen haben. Maria, die Mutter von Jesus von Nazareth, hält ihren toten Sohn, der gekreuzigt worden ist und nun gerade von diesem Kreuz abgenommen wurde, in den Armen. Wie schaffte sie das überhaupt? Unvorstellbar.
Und ihr Sohn, wie konnte er das alles ertragen?
Ich erinnere mich, von Pater Kopp vermutlich Anfang der 90er Jahre mal etwas zu diesem Thema gehört zu haben. In mir ist diese Erkenntnis jedenfalls seit langem unanzweifelbar vorhanden. Und zwar die, dass Jesus und Maria sich gegenseitig trugen! Er, Jesus wurde getragen durch die unendliche Liebe von Gott-Vater, die er ja auch selbst ist, und Maria kann Jesus nur halten durch ihre eigene tiefe Liebe zu ihm und durch seine unendlichen Liebe, mit der er, Jesus, in Gott, sie hält und trägt.
Und so komme ich nun auch auf den am Anfang genannten eigentlichen Auslöser für dieses Teisho, nämlich den Zusammenhang zwischen Leid, Liebe und Barmherzigkeit. Das hatte sich mir bis dahin noch nicht in dieser Deutlichkeit gezeigt. Ich meine, dass sich ohne Leid womöglich auch keine unendliche Liebe und Barmherzigkeit zeigen würde. Das bedeutet, Leid, unendliche Liebe und Barmherzigkeit sind aufs Engste miteinander verbunden. Leid zieht sozusagen das Auftreten von Liebe und Barmherzigkeit geradezu nach sich, sie sind nicht voneinander trennbar! Gott, das Leid, die unendliche Barmherzigkeit, die Liebe und auch wir sind NICHT zwei oder Mehrere! Kein Unterschied.
Ist das nicht vollkommen wunderbar?
Denn das ist genau die Richtung, in die es geht auf unserem Weg. Was für eine unendlich große Möglichkeit, der wir nur mit allergrößter Ehrfurcht begegnen können.
Und eben dazu ermutigen kann uns bereits unser heutiges Hiersein. Wer oder was hat uns alle denn die vielen, vielen Male schon und z.B. auch heute hierhergeführt?
Ganz selbstverständlich ist es jedenfalls nicht.
Ich danke Euch.
UR-F

