Leid

Zu unserer menschlichen Existenz und das heißt, der aller Menschen letztlich, gehört Leid – genauso wie Freude, Glück. Schmerzen körperlicher und geistig-seelischer Natur, Gefühle und Erfahrungen von Getrenntheit und Einsamkeit sind in unsere Natur sozusagen eingeschrieben, genauso wie auch Gemeinschaftserfahrungen, Wohlgefühl, Empfindungen von Innigkeit und Glückseligkeit. Mit dem Phänomen des Leids, welches ja weit über konkrete Schmerzen hinausreicht,[1] wollen wir uns nicht gerne beschäftigen. Wir versuchen meistens ihm zu entfliehen, ihm soweit wie möglich zu entkommen. Das betrifft nicht nur das eigene Leid. Jeden Tag werden wir mit dem Leid auf dieser Welt konfrontiert, dem Leid unter den Menschen, unter den Lebewesen dieser Erde und ja der gesamten Schöpfung, das heißt auch dieses wunderbaren Planeten selbst, auf dem eigentlich alles in diversen Gleichgewichten miteinander verbunden und gar in einer Interdependenz miteinander verwoben ist.

Nicht allein sein Ausmaß macht das Leid so unerträglich. Hinzu kommt vielmehr, dass es oft wahllos zuschlägt… Gerade diese Unverhältnismäßigkeit, Wahllosigkeit und Ungerechtigkeit wirft besonders intensiv die Frage nach dem Sinn des Leids auf. Oder anders gesagt, sie scheint nur eine einzige Deutung zu erlauben, nämlich die, dass das Leid eben keinen Sinn hat, dass Leid sinnlos ist. Doch wenn Leid ein Grundphänomen des menschlichen Lebens ist und wenn Leid sinnlos ist, dann drängt sich nahezu unabweislich der Schluss auf, dass unser Leben selbst sinnlos ist.[2]

Das ist ein Zitat aus einem jüngst neu erschienenen Buch des Münsteraners Seniorprofessors für Religionswissenschaft und interkulturelle Theologie Perry Schmidt-Leukel mit dem Titel: Das Wort vom Geheimnis der Welt – Biblische Texte interreligiös gelesen. Ich habe schon öfter aus seinen früheren wissenschaftlichen Büchern in verschiedenen Teishos zitiert. In diesem neuen Buch sind vor allem Universitätspredigten zusammengestellt, die er im Laufe der Jahre in Münster gehalten hat. Da Schmidt-Leukel sehr gut in den fernöstlichen Religionen, namentlich des Buddhismus, bewandert ist und auch Meditationserfahrung (zumindest aus seinen jüngeren Jahren) hat, ist er gerade für uns als ein Programm der Zen-Kontemplation von hohem Interesse. Und umso mehr habe ich mich gefreut, als ich dieses neue Buch in den Händen hielt.

Das heutige Teisho ist von diesem wesentlich inspiriert worden. So möchte ich jetzt damit fortfahren in einem großen Gleichklang mit dem, was Schmidt-Leukel im November 2014 „predigte“ und darin im nächsten Gedankenschritt ausführte, dass das Leid „für alle Religionen eine kapitale Herausforderung“ ist. Es ist ja eine Grundfrage für die Existenzberechtigung von Religion gar, so möchte ich zuspitzen – und für die Menschen jeder Religion schlechthin –, ob sie dem Leid und damit dem Leben überhaupt, welches eben leidbehaftet ist, wie Shakyamuni in absoluter Klarheit und Unbedingtheit als grundlegend wahr erfuhr, „einen Sinn abgewinnen“.

Einen Sinn, der weder vor dem Leid die Augen verschließt, noch durch das Leid widerlegt wird?[3]

Nun liegt es nahe, wo ich gerade Shakyamuni Buddha erwähnte, an die Karmalehre des Hinduismus und des Buddhismus zu denken. In diesem Leben erlittenes Leid, auch wenn scheinbar unverdient und sinnlos erscheinend, findet seine Erklärung und Rechtfertigung in schlechten Taten in früheren Leben, ist also letztlich selbstverschuldet und verdient. Kein Grund sich zu beklagen. Kein Grund, einen Sinn zu bestreiten. Alles fügt sich nahtlos und widerspruchsfrei zusammen. Bestimmte Ursachen führen zu bestimmten Folgen. Auch wenn wir die Ursachen nicht wissen, sie existieren. Sie legitimieren das Jetzt dieses konkreten Leids. Die Verantwortungsfrage ist damit auch gleich bündig und klar beantwortet. Die Verantwortung liegt bei jedem Einzelnen. Und die Freiheit, die uns ja sehr wertvoll ist, ist dadurch in Frage gestellt. Eine hochproblematische Folge dieses religiösen Konzepts.[4] Hochproblematisch für das Individuum, für die Gesellschaften und staatlichen Ordnungen und Regeln.

Wie Schmidt-Leukel zu Recht ausführt, findet sich

die Vorstellung, dass alles Leid die Folge oder gerechte Vergeltung von Verfehlung ist, … auch in den abrahamitischen Religionen. Im Christentum hat ein breiter Strang religiösen Denkens versucht, alles Leid der Menschheit als Folge eines einzigen Sündenfalls, nämlich den der Stammeltern Adam und Eva zu erklären.[5]

Ein Versuch, so beurteilt Schmidt-Leukel es, der wenig überzeugend und sogar abstoßend wirkt.[6] Auch im Buch Hiob wird schon alttestamentarisch Kritik an einem Glauben artikuliert, alles Leid sei immer nur gerechte Vergeltung.[7]

Wenn man einer Vergeltungslogik nicht folgen möchte und sie – zu Recht, wie ich anmerken möchte – für einen mündigen Menschen nicht überzeugend und vor allem nicht als hilfreich erachtet, was dann? Gibt es eine andere Möglichkeit, im Leid als einem grundlegenden Phänomen des menschlichen Lebens (um erst mal bei uns Menschen zu bleiben, was uns schon hinreichend herausfordert) Sinn zu erkennen, so fragt auch Schmidt-Leukel zu Recht.[8] Oder ist die Sinnfrage unbeantwortbar?[9] Soll man sich damit abfinden? Welch ein Leben wäre das dann für jeden, der von der Sinnfrage umtrieben wird, gerade eben in seinem eigenen und dem Leid, welches er um sich herum wahrnimmt? Die Hölle wäre das wohl, wenn es für diesen Menschen dabei bliebe. Nur noch Betäubung möglich. Seine Freiheit wäre reduziert darauf, alles zu verdrängen, von sich fernzuhalten, abzukapseln, abzuspalten und sich zu verhärten. Ist das nun wirklich die einzige Alternative? Wie erbärmlich wäre das, nicht wahr?

Wo mir an dieser Stelle das Wort „erbärmlich“ kam und sich der Gedanke an „Erbarmen“ und „Mitgefühl“ in mein Bewusstsein schlich, tut sich da nicht eine Spur auf, meint ihr nicht auch? Dazu möchte ich Perry Schmidt-Leukel das Wort geben:

Ich denke, dass es eine solche Alternative tatsächlich gibt. Auch sie sieht einen engen Zusammenhang zwischen der menschlichen Freiheit und dem Leid. Genauer gesagt geht es hierbei um die Freiheit zu moralisch wertvollem Handeln. Denn moralisch wertvolles Handeln ist genau jenes Handeln, das darum bemüht ist, das Leid anderer zu lindern. Moralisch wertvolles Handeln setzt somit eine Welt voraus, in der das Leid als echte Herausforderung besteht. Eine moralisch relevante Freiheit ist nicht die Freiheit, zwischen Himbeereis und Schokoladeneis zu wählen, sondern die Freiheit zu gutem wie zu bösem Tun. Moralisch wertvolles Handeln ist nur möglich in einer Welt, in der zugleich auch echtes Leid möglich ist.

Blicken wir aus dieser Perspektive noch einmal auf den Buddhismus, in dessen Lehre und Praxis dem Phänomen des Leids ein zentraler Stellenwert zukommt. In der Erleuchtung, so die grundlegende buddhistische Überzeugung, wird die völlige Freiheit vom Leid erreicht. Im Mahayana-Buddhismus hat sich das Ideal entwickelt, die Erleuchtung nicht primär deshalb anzustreben, um selbst von allem Leid frei zu werden, sondern um als ein Erleuchteter allen anderen Wesen auf die bestmögliche Art zu ihrer Befreiung vom Leid verhelfen zu können. Wer aus diesem altruistischen Grund nach der Erleuchtung strebt, gilt als ein Bodhisattva. Die wichtigste Tugend, die ein Bodhisattva entfalten soll, ist somit das Mitleid oder Mitgefühl mit allen Leidenden.[10]

Die wahre Praxis der Bodhisattvas ist, nicht zu versuchen, dem Leiden in der Welt zu entgehen.

Aus diesem Mitgefühl mit den Leidenden heraus entsteht dann aber auch eine neue Haltung gegenüber dem eigenen Leid. Denn das eigene Leid hilft dem Bodhisattva, das Leid der anderen besser nachzuempfinden, macht ihn sensibel für fremdes Leid. Schließlich gelangt er sogar dahin, nicht mehr zwischen eigenem und fremdem Leid zu unterscheiden.[11]

Bodhicitta, der Geist des Erwachens oder Buddha-Geist, zeigt sich darin, nicht in seinen Anstrengungen nachzulassen, das Leid – ohne Einschränkung auf eigenes oder fremdes Leid – zu überwinden, solange auch nur ein einziges Wesen noch leidet. Leid ist allein deshalb zu bekämpfen, weil es leidhaft ist und alle Wesen das eigene Selbst sind.[12]

Die gegenwärtige Welt mit all dem in ihr vorhandenen Übel und Leid ist nach dem Mahayana-Verständnis, wie im Lotos-Sutra und dem Vimalakirtinirdesa-Sutra ausgedrückt, in Wahrheit reines Buddha-Land. Deshalb muss und kann es überhaupt erst zur Entwicklung der sog. Bodhisattva-Tugenden kommen.

Nur in einer Welt, in der Leid ist, können Menschen jene Haltung und Eigenschaften entwickeln, die über das Leid hinausführen.[13]

Ist das nicht eine wunderbare Möglichkeit menschlicher Freiheit?

In einem völlig leidfreien Paradies, in einer Art Schlaraffenland, könnte dieses Mitgefühl nicht existieren. Mit anderen Worten: Nicht jedes einzelne Leid macht Sinn. Aber das Leben in einer Welt, in der es Leid gibt, macht Sinn, da nur in einer solchen Welt der Wert der Liebe offenbart und realisiert werden kann.[14]

Wo nun das Wort Liebe gefallen ist, sollten wir den Blick auf das Leben und das Leid Jesu richten. Wir werden es kaum als befriedigend empfinden, wie es die klassische theologische Deutung uns zu vermitteln versucht, er habe für die Sünden der Menschen, auch für unsere, gelitten und sich hinrichten lassen. Dies ist wieder eine Spielart der Vergeltungslogik: Ein Unschuldiger muss sterben, damit einem Schuldigen vergeben werden kann. Ich denke, das entspricht unserem Gottes- und Menschenbild nicht (mehr). Tragfähig auch für unser Leben und unsere Zen-Praxis ist hingegen doch wohl dies: „Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6, 36). Diese Mahnung und Einweisung entspricht dem Grundmotiv des eigenen Lebens von Jesus Christus und seiner Beziehung zu Gott- (Vater), seinem Abba: aus sich heraus, d. h. für mich: aus göttlicher Quelle heraus, barmherzig zu sein.[15]

Das Vertrauen auf diese Botschaft wird uns nicht vom Leid erlösen – zumindest nicht hier und jetzt. Aber es kann uns befreien im Umgang mit dem Leid. Es kann uns dazu verhelfen, dem Geist Christi in uns Raum zu geben. Das heißt, es kann uns dazu befreien, so wie er selbst das Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes weiterzugeben durch eigene Barmherzigkeit. … Dadurch wird sinnloses Leid nicht sinnvoll. Doch ein Leben, in dem es sinnloses Leid gibt, erhält so seinen Sinn. … Vom Standpunkt der Liebe Gottes her kann alles zum Besten dienen, wenn es als Gelegenheit verstanden wird, Barmherzigkeit zu üben.[16]

Vielleicht kann das Licht, das unser Leben erhellt, wenn vielleicht auch nur gelegentlich, uns dazu bewegen und befähigen, selbst Licht in das Leben anderer Menschen zu bringen – sodass wir durchlässig werden für das Licht und das Licht durch jeden von uns leuchten kann unter den Menschen (Mt 5,16).[17]

Danke!

KF

(Zazenkai am 16. 10. 2025 in Hattingen-Welper)

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[1] Die erste Edle Wahrheit von Shakyamuni Buddha, das Leben beinhaltet Leiden (dukkha), wird im Samyutta Nikâya (56,11) so wiedergeben: „Dies, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit über das Leid: Geburt ist Leid, Alter ist Leid, Krankheit ist Leid, Tod ist Leid; Vereinigung mit Unliebem ist Leid; Trennung von Liebem ist Leid; nicht erlangen, was man begehrt, ist Leid; kurz gesagt, die fünf Gruppen des Anhaftens sind Leid.“ (zitiert nach Perry Schmidt-Leukel, Das himmlische Geflecht, 2022, S. 90.

[2] Perry Schmidt-Leukel, Das Wort vom Geheimnis der Welt – Biblische Texte interreligiös gelesen, 2025, S. 130 f.

[3] A.a.O., S. 131.

[4] Vgl. a.a.O., S. 131 f.

[5] A.a.O., S. 132.

[6] A.a.O.

[7] Dazu – und näher – a.a.O., S. 132 f.

[8] A.a.O., S. 133.

[9] A.a.O., S. 133.

[10] A.a.O., S. 134.

[11] A.a.O.

[12] Perry Schmidt-Leukel, Das himmlische Geflecht, 2022, S. 251, 128, 201 f.; vgl auch: Leuchtende Dunkelheit – dunkles Licht, 2023, S. 209.

[13] Leuchtende Dunkelheit – dunkles Licht, 2023, S. 209; vgl. Perry Schmidt-Leukel, S. 186.

[14] Perry Schmidt-Leukel, Das Wort vom Geheimnis der Welt – Biblische Texte interreligiös gelesen, 2025, S. 135.

[15] Vgl. dazu auch Perry Schmidt-Leukel, a.a.O., S. 135 ff.

[16] A.a.O., S. 137.

[17] A.a.O., S. 41.