Bei der schwedischen Krimi-Autorin Tove Alsterdal, die wirklich gute, d.h. anspruchsvolle überzeugende und immer mit wichtigen zeitgeschichtlichen Bezügen versehene Kriminalromane geschrieben hat, fand ich in einem von diesen vor gut einem Jahr folgende wirklich bedenkenswerte Zitate, die mir auch für uns in unserer Zen-Übung auf dem Kissen und im sonstigen Leben wichtig erscheinen. Sie lauten:
Die Leute sagen, man müsse im Jetzt leben, aber das ist unmöglich. Das Jetzt gibt es nicht. Es verschwindet in jeder Sekunde. Immer wenn ich versucht habe, im Jetzt zu sein, hat mich die Vergangenheit eingeholt. Vielleicht liegt es am Alter. Der Geruch von Teer und das Wellengeplätscher von Fischerbooten zum Beispiel führen mich zurück in meine Kindheit, als meine Eltern ein Ferienhaus in Österlen mieteten, und im nächsten Augenblick möchte ich weinen, weil es vorbei ist und ich allein zurückgeblieben bin. Das Klatschmohnfeld löste dasselbe in mir aus, verwandelte sich in Wehmut.[1]
Lasst uns einen Moment innehalten und schauen, – jeder still für sich – was sich da an ähnlichen Erinnerungsvorgängen und Emotionen für ihn ergeben hat und sich gerade jetzt – nach einundeinhalb Stunden der Schweigemeditation meldet.
Nun, ich habe dieses Zitat und gleich die Fortsetzung dazu bereits einmal an einem Abend vorgelesen. Es war im September 2024. Aber ich finde diese hier angesprochene Thematik angesichts der immer wieder wiederholten Floskeln, die mittlerweile wohlfeiles Allgemeingut einer laien-psychologisierenden Gesellschaft zu sein scheinen (immer wieder gefüttert, selbst durch seriöse und sorgfältig gemachte Medien) von Wichtigkeit insofern, dass wir da als Menschen einer Übungspraxis etwas dazu sagen und uns – und wenn es nottut auch anderen – klarmachen, worüber wir hier wirklich sprechen. Und wirklich darüber sprechen geht nur aufgrund eigener Erfahrung und in einem ehrlichen Zeugnisgeben.
Dieses Jetzt, von dem alle sprechen, ist kein (Irgend-)Etwas. Es ist kein Götze. Es ist kein idealisierter Zustand. Es ist kein Synonym für so etwas wie Erleuchtung (auch das ein mittlerweile abgenudelter Begriff). Tove Alsterdal legt da zutreffend den Finger in die Wunde, die sich vor allem dadurch bilden kann, wenn Menschen versuchen, dieser Aufforderung, im Jetzt zu leben, nachzukommen – und merken, dass das irgendwie bei ihnen nicht funktionieren will, so dass viele dass dann als ein persönliches Unvermögen erleben, und dann oftmals alles sein lassen und wieder in alte Muster verfallen, weil ihnen diese ganze Achtsamkeitswelle suspekt erscheint.
Wenn wir nun die Worte von Tove Alsterdal nehmen, könnten wir tatsächlich versucht sein zu resignieren, wenn doch das Jetzt gar nicht existiert. Aber die Schriftstellerin stellt selbst ein Stoppschild auf, indem sie den inneren Vorgang bei sich schildert, in dem Erinnerungen aufploppten, die sie anschaute und sich ihren Emotionen dazu stellt. Und sie schrieb noch folgendes:
Ich glaube, es ist nicht das Jetzt, was wir wollen, es ist die Zukunft. Wenn wir die aus dem Blick verlieren, stirbt etwas. Das Jetzt ist allenfalls der Moment, in dem die Zukunft beginnt. Etwas Reines. Die Aussicht auf der anderen Seite der Scheibe, der Horizont, von dem man nicht wusste, dass es ihn gibt. Zu wissen dass alles Mögliche passieren kann und nichts bleibt, wie es war.[2]
Wenn wir uns zur Meditation setzen, richten wir uns in der Tat, wie in unserem täglichen Leben, mit unserer Aufmerksamkeit und unseren Willens- und Verstandskräften tatsächlich auf die Zukunft aus. Im Gegensatz zu dem, wie es in unserem Alltag oftmals ist, versuchen wir uns kleinteiliger in die Zukunft zu begeben, versuchen uns auf den nächsten konkreten Moment auszurichten. Wir versuchen, so zu schauen, dass sich der Schleier der vielen folgenden Augenblicke nicht auf diesen Moment gerade jetzt vor uns legt. Das ist genau das, was Tove Alsterdal als etwas Reines bezeichnet und zugleich als eine Öffnung dahingehend, dass nichts bleibt, wie es war. Und wie es ist. Schon wieder möchte ich ein zweites „Gerade Jetzt“ hinzufügen.
So etwas erleben wir doch alle in der Stille unserer Meditation. Und das ist ein heilsamer Vorgang: wir sehen uns, wie wir geworden sind und jetzt da sind. Was habe ich da gerade erneut gesagt? Jetzt!
Das Jetzt gibt es nicht als Ziel, als etwas in das ich (wer ist das überhaupt?) mich (und wer soll das nun sein?) hineinbegeben könnte. Ja, das ist absolut richtig! Genauso richtig ist, dass es der Moment ist, in dem die Zukunft beginnt und sich ein Horizont eröffnen kann, von dem man nicht wusste, dass es ihn gibt. „Das Wunderbare ist möglich“, so sagte es P. Johannes Kopp.
Ein Wort des Zitats an dieser Stelle möchte ich allerdings streichen, das „Allenfalls“. Es ist nicht lediglich oder allenfalls der Moment des Beginns (und gleichzeitig des Wandels und der Flüchtigkeit), sondern es ist dies voll und ganz und damit die gesamte Wirklichkeit.
Körper ist immer im Jetzt. Die Aktivität des Geistes/Bewusstseins ebenso.
Vergangenheit ist in Erinnerung jetzt bzw. in den Spuren in allen Dingen/Erscheinungen jetzt.
Zukunft ist in Vorstellungen, Ideen, Wünschen, Vorhaben etc. pp, die alle im Jetzt gefasst, geäußert und umgesetzt werden.
Wir sind also im Jetzt. Und dieses „Jetzt“ ist auf der „Durchreise“!
Wir sind auf der Durchreise. „Im steten Beginn“, wie P. Johannes Kopp zu sagen pflegte. Auf dem Kissen, dem Bänkchen, dem Hocker wie im alltäglichen Leben. Immer! Ohne jede Ausnahme!
Welch eine Befreiung!
Danke!
KF
(Impuls nach der Abendmeditation am 10. 11. 2025)
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[1] Tove Alsterdal, Blinde Tunnel, S. 17 f.
[2] Tove Alsterdal, ebd.

