Bodhidharma: Vernunft und Praxis

I.

Ulrike hat am letzten Montag ja einiges zum 1. chinesischen Zen-Patriarchen, Bodhidharma, der aus Indien nach China ging, gesagt und uns sehr schön ihre Assoziationen zu der Zeichnung von Meister Hakuin, die bei uns im Zendo steht nahegebracht, und vor allem dazu, was Hakuin da eigentlich gemalt hat und was er mit dieser ungewöhnlichen Zeichnung im Eigentlichen ausdrücken wollte.

Ich möchte zu diesem Bodhidharma, dem Barbaren aus dem Westen, der in vielen Zen-Koans „herumgeistert“, noch ein wenig beisteuern. Was die wenigsten wissen, ist nämlich, dass es Schriften gibt, die Bodhidharma als Verfasser zugeschrieben werden. Im Wesentlichen sind es zwei, die Teil von Funden in den 90’er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind in der Nähe einer chinesischen Oasenstadt Tun-huang in zahlreichen verschütteten Höhlen aus der Frühzeit des Buddhismus in China (4. bis 10. Jahrhundert).[1]

Die darin enthaltene kurze Abhandlung „Die zwei Eingangstore zum Tao“ beginnt mit den Worten:

Many roads lead to the Path, but basically there are only two: reason and practice.[2] 

Viele Wege führen zum Pfad, doch im Grunde gibt es nur zwei: Vernunft und Praxis.

Vernunft und Praxis

Praxis okay, das haben wir schon oft gehört und gelesen, dass es darum geht auf dem Weg bzw. dem Pfad des Zen, im Dharma oder im Tao.

Aber Vernunft? Zen hat was mit Vernunft zu tun? Interessanterweise hat das englische Wort reason in entsprechenden Zusammenhängen auch die Bedeutung „Grund“. Und das scheint mir keine bloße Wortspielerei zu sein. Denn um einen Weg der Praxis im Sinne des Zen zu gehen als ein Übender (= Praktizierender) im Vollzug des Zazen und im Leben überhaupt, bedarf es eines Grundes! Ohne einen solchen kommt niemand auf diesen Weg der Praxis. Das ist die eine mögliche Perspektive, den Worten von Bodhidharma Relevanz auch für uns zu verleihen.

Bodhidharma geht indes weiter. Nach ihm betritt man den Weg erst wirklich, wenn folgendes geschieht:

To enter by reason means to realize the essence through instruction and to believe that all living things share the same true nature, which isn’t apparent because it’s shrouded by sensation and delusion. Those who turn from delusion back to reality, who meditate on walls,‘ the absence of self and other, the oneness of mortal and sage, and who remain unmoved even by scriptures are in complete and unspoken agreement with reason. Without moving, without effort, they enter, we say, by reason.

Durch Vernunft einzutreten bedeutet, die Essenz durch Unterweisung zu erkennen und zu glauben, dass alles Lebendige dieselbe wahre Natur teilt, die nicht sichtbar ist, weil sie von Empfindungen und täuschenden Vorstellungen verhüllt wird. Wer sich von der Täuschung zurück zur Realität wendet, wer vor Wänden meditiert, über die Abwesenheit von Selbst und Anderem, über die Einheit von Sterblichem und Weisem und wer selbst von den Schriften unbeeindruckt bleibt, steht in völliger und unausgesprochener Übereinstimmung mit der Vernunft. Ohne Bewegung, ohne Anstrengung tritt er, sagen wir, durch Vernunft ein.

Was soll das heißen, gänzliche, unausgesprochene, stillschweigende Übereinstimmung mit der Vernunft? Es ist ein Sein im natürlichen, selbstverständlichen Ein-Klang mit dem Dharma, sprich: dem Leben, – in absoluter Freiheit in nahtloser Verbindung mit allem Lebendigen. Vernunft im Sinne des Bodhidharma ist also nicht das landläufig mit Vernunft als gewöhnlichem Begriff Verbundene, nämlich die Fähigkeit, zu denken, Erkenntnisse zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, Verknüpfungen herzustellen, Urteile abzugeben und entsprechend zu handeln. Es lässt sich am besten mit dem vergleichen, was zum Beispiel im Herz-Sutra mit Prajnâpâramitâ bezeichnet wird, als die Weisheit, die an das andere Ufer bringt, die Einsicht, die uns zu dem bringt, was als Erleuchtung bezeichnet wird.

Dann haben wir es nach Bodhidharma noch mit dem Tor der Praxis zu tun. Gewöhnlich versteht man im Zen unter Praxis den Vollzug von Zazen, der Schweige-Meditation im Sitzen, in einem entsprechenden Rahmen in der Stille zu Hause, in einer Gruppe, in Sesshins. Doch Bodhidharma versteht unter Praxis schwerpunktmäßig unser Da-Sein im Alltag, im gewöhnlichen Leben. Es geht ihm um rechte Sicht und rechtes Tun im täglichen Leben. „Als direkter Nachkomme des Buddha verstand er, dass die Geisteshaltung eines jeden Menschen entscheidend ist für sein Wirken in der Welt.“[3] 

 

II.

Seinen Einzelausführungen dazu ist folgende Einleitung vorangestellt:

To enter by practice refers to four all-inclusive practices: Suffering injustice, adapting to conditions, seeking nothing, and practicing the Dharma.

Durch Praxis einzutreten bezieht sich auf vier allumfassende Praktiken:

  • Ungerechtigkeit erleiden,
  • sich den Umständen anpassen,
  • nichts suchen
  • und den Dharma praktizieren.

Das klingt gewöhnungsbedürftig. Und es weckt bestimmt auch Widerstandsgefühle. Deshalb ist es wichtig, zunächst einmal zu wissen, wie Bodhidharma dies erläutert, um dann zu eigener Einordnung und Beurteilung kommen zu können. Ich zitiere ihn daher in Englisch und sodann in deutscher Übersetzung:

First, suffering injustice. When those who search for the Path encounter adversity, they should think to themselves, „In Countless ages gone by, I’ve turned from the essential to the trivial and wandered through all manner of existence, often angry without cause and guilty of numberless transgressions. Now, though I do no wrong, I’m punished by my past. Neither gods nor men can foresee when an evil deed will bear its fruit. I accept it with an open heart and without complaint of injustice. The sutras say „when you meet with adversity don’t be upset because it makes sense.“ With such understanding you’re in harmony with reason. And by suffering injustice you enter the Path.

Second, adapting to conditions. As mortals, we’re ruled by conditions, not by ourselves. All the suffering and joy we experience depend on conditions. If we should be blessed by some great reward, such as fame or fortune, it’s the fruit of a seed planted by us in the past. When conditions change, it ends. Why delight In Its existence? But while success and failure depend on conditions, the mind neither waxes nor wanes. Those who remain unmoved by the wind of joy silently follow the Path.

Third, seeking nothing. People of this world are deluded. They’re always longing for something-always, in a word, seeking. But the wise wake up. They choose reason over custom. They fix their minds on the sublime and let their bodies change with the seasons. All phenomena are empty. They contain nothing worth desiring. Calamity forever alternates with Prosperity. To dwell in the three realms is to dwell in a burning house. To have a body is to suffer. Does anyone with a body know peace? Those who understand this detach themselves from all that exists and stop imagining or seeking anything. The sutras say, „To seek is to suffer. To seek nothing is bliss.“ When you seek nothing, you’re on the Path.

Fourth, practicing the Dharma. The Dharma is the truth that all natures are pure. By this truth, all appearances are empty. Defilement and attachment, subject and object don’t exist. The sutras say, „The Dharma includes no being because it’s free from the impurity of being, and the Dharma includes no self because it’s free from the impurity of self.“ Those wise enough to believe and understand these truths are bound to practice according to the Dharma. And since that which is real includes nothing worth begrudging, they give their body, life, and property in charity, without regret, without the vanity of giver, gift, or recipient, and without bias or attachment. And to eliminate impurity they teach others, but without becoming attached to form. Thus, through their own practice they’re able to help others and glorify the Way of Enlightenment. And as with charity, they also practice the other virtues. But while practicing the six virtues to eliminate delusion, they practice nothing at all. This is what’s meant by practicing the Dharma.

Erstens: Ungerechtigkeit erleiden. Wenn diejenigen, die den Weg suchen, auf Widrigkeiten stoßen, sollten sie sich denken: „In unzähligen vergangenen Zeitaltern habe ich mich vom Wesentlichen zum Nebensächlichen abgewandt und bin durch alle Arten des Daseins gewandert, oft grundlos wütend und schuldig zahlloser Verfehlungen. Nun, obwohl ich nichts Unrechtes tue, werde ich von meiner Vergangenheit bestraft. Weder Götter noch Menschen können vorhersehen, wann eine böse Tat Früchte tragen wird. Ich akzeptiere sie mit offenem Herzen und ohne mich über Ungerechtigkeit zu beschweren. Die Sutras sagen: „Wenn du auf Widrigkeiten stößt, sei nicht verärgert, denn sie haben Sinn.“ Mit diesem Verständnis bist du im Einklang mit der Vernunft. Und indem du Ungerechtigkeit erleidest, betrittst du den Weg.“

Zweitens: Anpassung an die Umstände. Als Sterbliche werden wir von Bedingungen beherrscht, nicht von uns selbst. Alles Leid und alle Freude, die wir erfahren hängen von Bedingungen ab. Wenn uns eine große Belohnung wie Ruhm oder Reichtum zuteilwird, ist sie die Frucht eines Samens, den wir in der Vergangenheit gepflanzt haben. Wenn sich die Bedingungen ändern, endet sie. Warum sich an ihrer Existenz erfreuen? Doch während Erfolg und Misserfolg von Bedingungen abhängig sind, wächst der Geist und schwindet nicht. Wer vom Wind der Freude unberührt bleibt, folgt still dem Pfad.

Drittens: Nichts suchen. Die Menschen dieser Welt sind getäuscht. Sie sehnen sich immer nach etwas – kurz gesagt, sie suchen immer. Doch die Weisen erwachen. Sie wählen Vernunft statt Gewohnheit. Sie richten ihren Geist auf das Erhabene und lassen ihren Körper mit den Jahreszeiten wechseln. Alle Phänomene sind leer. Sie enthalten nichts Wünschenswertes. Unglück wechselt ewig mit Wohlstand. In den drei Reichen zu leben, ist wie in einem brennenden Haus zu leben. Einen Körper zu haben, bedeutet zu leiden. Kennt jemand mit einem Körper Frieden? Wer dies versteht, löst sich von allem Seienden und hört auf, sich etwas vorzustellen oder zu suchen. Die Sutras sagen: „Suchen heißt leiden.“ Nichts zu suchen ist Glückseligkeit. Wenn du nichts suchst, bist du auf dem Weg.

Viertens: Dharma praktizieren. Dharma ist die Wahrheit, dass alle Naturen rein sind. Durch diese Wahrheit sind alle Erscheinungen leer. Befleckung und Anhaftung, Subjekt und Objekt existieren nicht. Die Sutras sagen: „Dharma schließt kein Sein ein, weil es frei von der Unreinheit des Seins ist, und Dharma schließt kein Selbst ein, weil es frei von der Unreinheit des Selbst ist.“ Wer weise genug ist, diese Wahrheiten zu glauben und zu verstehen, ist verpflichtet, gemäß dem Dharma zu praktizieren. Und da das Wirkliche nichts enthält, was es wert wäre, missbilligt zu werden, geben sie ihren Körper, ihr Leben und ihren Besitz in wohltätigen Zwecken, ohne Reue, ohne Eitelkeit des Gebenden, Schenkenden oder Empfangenden und ohne Voreingenommenheit oder Anhaftung. Und um Unreinheit zu beseitigen, lehren sie andere, ohne jedoch an der Form zu haften. So können sie durch ihre eigene Praxis anderen helfen und den Weg der Erleuchtung verherrlichen. Und wie bei der Wohltätigkeit praktizieren sie auch die anderen Tugenden. Doch während sie die sechs Sie praktizieren Tugenden, um die Täuschung zu beseitigen, aber sie praktizieren überhaupt nichts. Das ist es, was mit der Ausübung des Dharma gemeint ist.

Die von buddhistischen Glaubensvorstellungen (wie dem Wiedergeburtsglauben und dem Karma-Verständnis) gefärbten Stellen kann man auslassen, ohne dass die grundlegenden Beschreibungen und Wahrheiten, die hier ausgedrückt sind, fortfallen. Das ist eine spannende Feststellung und zeigt die Zeitlosigkeit dieses alten Textes auf.

Zum ersten Punkt ist festzuhalten für unsere Praxis: Akzeptanz von Widrigkeiten und auch von Ungerechtigkeiten, die wir erleiden, mit offenem Herzen und ohne sich zu beklagen und in der Haltung, dass auch dies Sinn hat und schlicht und einfach genau das dann in diesem Moment ist, dass und wie sich Lebens-Wirklichkeit zeigt, heißt in der Übung des Weges zu sein.

Zweitens geht es darum, das Gesetz von Ursache und Wirkung beherzigen, die Flüchtigkeit jeglichen Geschehen wahrnehmen und nicht durch letztlich nur täuschende Vorstellungen von irgendeiner Beständigkeit, die wir oder andere uns einreden, zu überdecken versuchen, sondern still in der Übung bleiben und gleichzeitig unseren Herz-Geist dafür zu öffnen und offenzuhalten, dass all dies in Bewegung befindliche in der Welt der Form unbeweglicher, unendlicher, ewiger Geist ist. Es geht mit anderen Worten hier um Gleichmut, der erreicht werden kann, wenn dem sog. Ego möglichst jede Gelegenheit sich zu profilieren, genommen wird. „Wer wirkliche Weisheit entwickeln will, muss sein Ich nicht leugnen, sondern bloß aus dem Spiel nehmen, Das ist die Übung der Anpassung an die Umstände.“[4]

Drittens: dem Paradoxon folgen im täglichen Vollzug deines Lebens, dass da nichts zu erreichen gibt oder zu finden ist, also das Suchen, weil wir meinen, einen Mangel zu spüren in uns, letztlich sinnlos ist. Und gleichwohl unserer Sehnsucht Raum geben in Ausrichtung auf Erhabenes, aber diese Ausrichtung einfach nur aus sich heraus in ihrer Art und Weise, ohne sie zu manipulieren, geschehen, d.h. wirken zu lassen. Das ist Realisierung von Glück. Aber dies auch nur, wenn wir uns nicht dann darauf fixieren, es festhalten oder wiederholen zu wollen. „[Auch] wenn man z. B. unbedingt „Erleuchtung“ oder einen „Durchbruch“ haben will, ist dies genauso ein Begehren, wie wenn man immerzu die Selbstbestätigung durch andere Menschen braucht oder jeden Tag Sex oder ein Glas Bier verlangt, um glücklich zu sein. Sobald wir denken, wir müssten etwas Bestimmtes haben, um glücklich zu sein … sind wir Gefangene unseres Begehrens.“[5] Dann verlieren wir uns im Suchen.

Viertens: eine solche Praxis führt zu immer größerer, fraglos erbrachter Hingabe an die Aufgaben, die das Leben einem aufgibt. Einer Hingabe, die nicht großartig fragt, sondern handelt und anderen hilft, und zwar auch und gerade in Bezug darauf, dass diese ihre Täuschungen selbst erkennen, sie durchdringen und so den Dharma in ihrem Leben beginnen zu praktizieren. In der Zen-Praxis von Bernard Glassman und seiner Schule ist dies das: Zeugnis geben. Der Dharma ist die Wahrheit, dass alle Wesen gleich und alle Erscheinungen leer sind. Und ihn zu praktizieren heißt letztlich nichts weiter, als ohne Anhaftung an Form oder an Leere einfach zu tun, was getan werden muss. Charlotte Joko Beck drückte es so aus, wie es auf diesem verknitterten Blatt vor vielen, vielen Jahren von Marlis Fahrendorf mal notiert wurde:

Danke!

KF

(Abendmeditationen am 30. 6. und am 14. 7. 2025)

[1] Vgl. dazu Agetsu Wydler-Haduch, Der rote Faden des Dharma, S. 32 m. w. N.
[2] Outline of Practice – The Zen teaching of Bodhidharma, translated by Red Pine.; alle weiteren Zitate in englischer Sprache sind ebenso dort zu finden.
[3] Agetsu Wydler-Haduch, Der rote Faden des Dharma, S. 38.
[4] Agetsu Wydler-Haduch, Der rote Faden des Dharma, S. 44.
[5] A.a.O., S. 46.