Worum geht es in unserer Übung?

Es geht darum, einfach ganz da zu sein. Einfach zu sein. Ganz zu sein. Da zu sein. Das hört sich sehr einfach an …. Es bedeutet jedoch, seinen Willen, seine Ziele, seine Pläne, seine Vorstellungen davon aufzugeben, was das Leben ist, wer oder was wir selbst sind, absichtslos zu sein und sich dem Da-Sein hinzugeben und anzuvertrauen.

Von Dôgen Zenji, der als einer der großen japanischen Zen-Meister gilt und Begründer der Soto-Schule ist, stammen die berühmt gewordenen Worte (Shôbôgenzo):

Den Weg studieren heißt sich Selbst studieren.
Das Selbst studieren heißt sich Selbst vergessen.

Wenn wir in der Stille sitzen, werden wir uns unseres Körpers und des Atems bewusst und der großen Lebendigkeit, die ihnen innewohnt. Wir sind mit uns selbst konfrontiert, lernen uns selbst, unsere Gedanken, Gefühle und feinsten Regungen kennen, lernen – oft mühsam – es mit uns selbst auszuhalten…. uns so zu sehen wie wir sind, auch mit unliebsamen, ungeliebten, uns unannehmbar erscheinenden Aspekten … und wir laufen nicht weg – wir lernen – schrittweise – Freundlichkeit, Geduld, Akzeptanz, Mitgefühl, Annahme uns selbst gegenüber. Das bedeutet sich selbst zu studieren.

Aber dabei bleiben wir nicht stehen: Indem wir immer wieder die Aufmerksamkeit zum Atem bringen, in den Atem eintauchen, den Atem geschehen lassen, das Atemgeschehen und sie Selbsttätigkeit des Atems zulassen, geben wir langsam und dann mehr und mehr die Kontrolle auf, öffnen wir uns dafür, dem Leben die Führung zu überlassen. Wir werden eins mit dem Atem, immer mehr, immer tiefer, so sehr, dass wir schließlich erleben: es atmet und nicht mehr ich atme…. Das Bewusstsein weitet sich und da ist nur noch Atem, alles ist Atem, umfangen und durchdrungen von Leben, das Ich ist nicht mehr da, verschwunden und vergessen …. Wir sitzen in der Stille der Selbstvergessenheit, befreit von uns selbst, von den Grenzen des kleinen Ich  – sich selbst zu studieren heißt sich selbst vergessen! Und dann ist es möglich, von der Vollkommenheit des Lebens, die immer schon da ist, erfüllt zu werden und zu dieser grenzenlosen Lebendigkeit des Seins zu erwachen. In der Sprache Dôgens lautet das so:

Das Selbst vergessen heißt von den zehntausend Dingen erleuchtet werden.

Zu unserem wahren Wesen zu erwachen bedeutet, sich selbst so sehr im anderen zu erkennen, dass ich mich selbst als das Andere, den oder die Andere erkenne, bedeutet die Einheit allen Seins zu sehen und zu sein, bedeutet, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist, frei von Konzepten und Ideen – unverstellt. Es bedeutet, zu erkennen: – nichts existiert aus sich selbst heraus und dauerhaft; alles ist mit allem untrennbar verbunden – und gleichzeitig zu sehen, dass der Vielfalt und Verschiedenheit alles Existierenden die eine und gleiche geheimnisvolle Kraft des Seins, das unendliche Sein selbst innewohnt.

Das Selbst vergessen heißt von den zehntausend Dingen erleuchtet werden. Das ist Erwachen.

Petra Schmitz-Arenst